Just Culture in der Praxis: Implementierung einer nachhaltigen Sicherheitskultur im Schweizer Gesundheitswesen (Teil 3)

Von der Theorie zur Realität – Wie Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeeinrichtungen Just Culture erfolgreich umsetzen

Just Culture in der Praxis: Implementierung einer nachhaltigen Sicherheitskultur im Schweizer Gesundheitswesen (Teil 3)

Von der Theorie zur Realität – Wie Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeeinrichtungen Just Culture erfolgreich umsetzen

Just Culture in der Praxis: Implementierung einer nachhaltigen Sicherheitskultur im Schweizer Gesundheitswesen (Teil 3)

Von der Theorie zur Realität – Wie Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeeinrichtungen Just Culture erfolgreich umsetzen

In den ersten beiden Teilen unserer Blogreihe haben wir das Konzept der Just Culture als fairen und lernfördernden Ansatz zur Patientensicherheit und zum Fehlermanagement im Gesundheitswesen vorgestellt. Wir haben erfahren, dass dieser Ansatz eine Balance zwischen Lernkultur und Verantwortung schafft (Marx, 2001) und wir haben die entscheidende Unterscheidung zwischen menschlichem Fehler, riskantem und rücksichtslosem Verhalten kennengelernt. Doch wie gelingt nun der Schritt von dieser theoretischen Erkenntnis zur gelebten Praxis im hektischen Alltag von Spitälern, Kliniken, Pflegeeinrichtungen und weiteren Gesundheitsorganisationen?
Die zentrale Herausforderung für das Schweizer Gesundheitswesen, insbesondere für das Fehlermanagement im Gesundheitswesen, liegt nicht im Verstehen des Konzepts, sondern in seiner nachhaltigen Implementierung. Wie durchbrechen Akutspitäler, Rehakliniken, Pflegeheime, Spitex-Organisationen und Arztpraxen die oft tief verwurzelte Kultur der Schuldzuweisung (Blame Culture) und etablieren eine echte Just Culture? Wie schaffen Führungskräfte jene psychologische Sicherheit, die Mitarbeitende brauchen, um offen über Fehler, Beinahe-Zwischenfälle und Risiken zu sprechen – ohne Angst vor negativen Konsequenzen?
Dieser dritte Artikel beleuchtet die praktischen Schritte der Implementierung einer wirksamen Fehler- bzw. Lern- und Meldekultur und zeigt auf, welche Herausforderungen Sie erwarten und wie Sie diese im Kontext eines effektiven Fehler- und Qualitätsmanagements meistern können. Dabei wird eines deutlich: Just Culture ist kein Projekt mit Abschlussdatum, sondern ein kontinuierlicher kultureller Wandel, der konsequentes Engagement auf allen Ebenen erfordert – von der Geschäftsleitung bis zur Pflege am Patientenbett.
Warum dieser Artikel für Sie relevant ist: Eine funktionierende Just Culture trägt wesentlich dazu bei, das Fehlermanagement im Gesundheitswesen zu professionalisieren und langfristig die Patientensicherheit in allen Versorgungseinrichtungen zu erhöhen. Die richtige Implementierung entscheidet darüber, ob Just Culture ein Lippenbekenntnis bleibt oder zur wirksamen Grundlage Ihrer Patientensicherheit und Ihres Fehlermanagements wird.

Leadership Commitment: Der Wandel beginnt an der Spitze

Ohne authentisches und sichtbares Engagement der Führungsebene kann Just Culture nicht gelingen. Das zeigt auch die Machbarkeitsstudie von Leibold und Fridrich (2024) zur Just Culture im Schweizer Gesundheitswesen, durchgeführt im Auftrag der Stiftung Patientensicherheit Schweiz und des Bundesamts für Gesundheit (BAG): Erst wenn Spitalleitungen, Chefärzte, Pflegedienstleitungen und Heimleitungen die Prinzipien der Verantwortungskultur glaubwürdig vorleben, entsteht Vertrauen bei den Mitarbeitenden – eine Grundvoraussetzung für ein wirkungsvolles Fehlermanagement im Gesundheitswesen.

Authentisches Leadership Commitment bedeutet dabei weit mehr als gelegentliche Lippenbekenntnisse in Qualitätszirkeln oder Kadersitzungen. Es zeigt sich in vier konkreten Dimensionen, die auf den Erkenntnissen von Dekker (2012) und Marx (2001) zur gerechten Kultur im Gesundheitswesen basieren und damit einen direkten Einfluss auf die Patientensicherheit haben:

  1. Es braucht eine klare und wiederholte Kommunikationder Just Culture-Prinzipien über alle Kanäle hinweg. Führungskräfte müssen immer wieder vermitteln, dass die Organisation bewusst von reiner Schuldzuweisung Abstand nimmt und stattdessen auf systemisches Lernen und eine konstruktive Lernkultur setzt (Reason, 1997). Diese Botschaften müssen in Teamsitzungen, internen Newslettern, Qualitätsberichten und persönlichen Gesprächen verankert werden.
  1. Vorbildfunktionist entscheidend. Wenn Führungskräfte selbst offen über eigene Fehler sprechen und diese als Lernchancen für die gesamte Organisation nutzen, senden sie ein kraftvolles Signal. Ein Chefarzt, der in einer Morgenrapport einen eigenen Denkfehler thematisiert, oder eine Pflegedienstleitung, die eine suboptimale Entscheidung bei der Dienstplanung reflektiert, schaffen mehr Vertrauen als hundert Hochglanzpräsentationen über Fehlermanagement und Patientensicherheit.
  1. Es müssen konkrete Ressourcenfür das Qualitäts- und Risikomanagement bereitgestellt werden: ausreichend Zeit für gründliche Fallanalysen von Zwischenfällen und unerwünschten Ereignissen, finanzielle Mittel für Systemverbesserungen und die Implementierung von professionellen Meldesystemen. Je nach Grösse und Bedarf der Organisation bieten sich verschiedene Lösungen an: H-CIRS Professional für grosse Spitäler und Kliniken mit komplexen Anforderungen, H-CIRS Starter für kleinere Einrichtungen, die einen kosteneffizienten Einstieg suchen, oder H-CIRS Community für die Vernetzung mehrerer Institutionen im Sinne eines gemeinsamen Lernens. Alle Systeme wurden speziell für die Anforderungen des Schweizer Gesundheitswesens entwickelt und berücksichtigen die Vorgaben des KVG (Krankenversicherungsgesetz).
  1. Kultureller Wandel braucht eine langfristige Perspektive. Die Entwicklung einer reifen Sicherheitskultur erstreckt sich über Monate und Jahre, nicht über Wochen. Führungskräfte in Schweizer Spitälern, Kliniken und Pflegeeinrichtungen müssen die Geduld aufbringen, diesen Prozess zu begleiten – auch wenn es Rückschläge gibt (Dekker, 2012).

Praxistipp für Schweizer Führungskräfte: Hinterfragen Sie regelmässig Ihre eigenen Entscheidungen nach Just Culture-Prinzipien: „Würde meine Reaktion auf diesen Zwischenfall das Vertrauen meiner Mitarbeitenden stärken oder schwächen? Fördere ich damit die Meldebereitschaft oder hemme ich sie?“ Dieser Reflexion ist ein zentraler Bestandteil professionellen Fehlermanagements im Gesundheitswesen und unterstützt die Patientensicherheit auf allen Ebenen.

Psychologische Sicherheit: Das Herzstück der Just Culture

Der Begriff der psychologischen Sicherheit, geprägt durch die Forschung von Amy Edmondson (2018), beschreibt die Überzeugung von Teammitgliedern, dass sie zwischenmenschliche Risiken eingehen können, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Im Kontext der Patientensicherheit im Schweizer Gesundheitswesen bedeutet dies konkret: Mitarbeitende müssen sich sicher fühlen, Fehler zu melden, Beinahe-Zwischenfälle zu rapportieren, Bedenken zu äussern oder Verbesserungsvorschläge zu machen – unabhängig von ihrer Position in der oft stark ausgeprägten Hierarchie. Diese Offenheit ist die Basis für ein erfolgreiches Fehlermanagement im Gesundheitswesen und somit für nachhaltige Patientensicherheit.

Psychologische Sicherheit entsteht nicht durch Absichtserklärungen in Leitbildern, sondern durch konkrete Massnahmen auf struktureller, kommunikativer und prozessualer Ebene. Strukturell helfen anonyme Meldekanäle wie das H-CIRS-System, die Schwelle für Meldungen von kritischen Ereignissen und Beinahe-Fehlern deutlich zu senken. Für kleinere Einrichtung oder Arztpraxen bietet sich H-CIRS Starter als niederschwelliger Einstieg an. Eine offene Türen-Politik der Führungskräfte und regelmässige Feedback-Runden ohne Hierarchiedruck verstärken diesen Effekt zusätzlich. Solche Systeme und Kommunikationsstrukturen fördern die Patientensicherheit und ermöglichen ein lernorientiertes Fehlermanagement im Gesundheitswesen, das Risiken frühzeitig erkennt und behebt.

Kommunikativ ist vor allem aktives Zuhören als Führungskompetenz zentral (Edmondson, 2018). Wertschätzende Sprache, offene Fragen statt Vorwürfe und positive Verstärkung für jede Meldung – unabhängig vom Inhalt – signalisieren, dass Transparenz und eine offene Meldekultur als Teil des Fehlermanagements im Gesundheitswesen erwünscht sind. Prozessual schaffen klare Abläufe bei der Bearbeitung von Meldungen im Rahmen des Critical Incident Reporting Systems (CIRS) und transparente Kriterien für Entscheidungen das notwendige Vertrauen. Mitarbeitende müssen nachvollziehen können, wie ihre Meldung bearbeitet wird und welche Systemverbesserungen daraus resultieren – ein wesentlicher Beitrag zur Patientensicherheit.

Ein praktisches Beispiel aus einem Schweizer Akutspital: Nach der Implementierung eines CIRS-Systems für Fehlermanagement stiegen die Meldungen zunächst kaum an. Erst als die Spitalleitung begann, in monatlichen Town Halls konkrete Systemverbesserungen vorzustellen, die aus Meldungen resultierten, und den Meldenden (anonymisiert) zu danken, verdreifachte sich die Meldebereitschaft innerhalb von sechs Monaten. Die Fehlerkultur wandelte sich spürbar.

Erfolgsmessung: Psychologische Sicherheit lässt sich messen –Mitarbeiterbefragungen zur psychologischen Sicherheit, die Anzahl und Qualität der CIRS-Meldungen sowie die Offenheit in Teambesprechungen sind messbare Indikatoren für eine funktionierende Sicherheitskultur. Systeme wie H-FEEDBACK können hier wertvolle Daten liefern.

Kompetenzaufbau: Schulung für alle Ebenen

Die Prinzipien der Just Culture müssen nicht nur verstanden, sondern praktisch angewendet werden können – sei es in der Notaufnahme, auf der Intensivstation, im Operationssaal, im Pflegeheim oder bei der Spitex. Ein systematisches Bildungsprogramm zum Thema Fehlermanagement im Gesundheitswesen und Patientensicherheit ist daher unverzichtbar und sollte unterschiedliche Zielgruppen im Schweizer Gesundheitswesen adressieren (Marx, 2001).

Für alle Mitarbeitenden – von der Ärzteschaft über die Pflege bis zur Administration – ist eine Basisschulung erforderlich, die in zwei bis vier Stunden die Grundlagen vermittelt: Was ist Just Culture und wie unterscheidet sie sich von der traditionellen Blame Culture? Wie unterscheiden wir menschliche Fehler von riskantem und rücksichtslosem Verhalten? Welche Verantwortung trage ich für sicheres Handeln und transparentes Melden von Zwischenfällen? Diese Schulungen sollten mit praxisnahen Beispielen aus dem jeweiligen Arbeitsbereich arbeiten und den Umgang mit dem institutionellen Meldesystem trainieren – sei es H-CIRS Professional für grosse Organisationen oder H-CIRS Starter für kleinere Einrichtungen.

Führungskräfte in Spitälern, Kliniken, Pflegeheimen und Spitex-Organisationen benötigen vertiefende Schulungen von ein bis zwei Tagen, die sich auf den fairen Analyseprozess von Zwischenfällen, Coaching-Techniken im Umgang mit riskantem Verhalten und die Schaffung psychologischer Sicherheit konzentrieren (Edmondson, 2018). Solche Führungskräftetrainings sind ein entscheidender Heber für nachhaltige Patientensicherheit und professionelles Fehlermanagement im Gesundheitswesen, da sie die Reflexionsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft auf allen Ebenen stärken. Besonders wichtig ist das Training schwieriger Gesprächssituationen im Kontext des Risikomanagements: Wie führe ich ein Coachinggespräch nach einem riskanten Verhalten? Wie kommuniziere ich, wenn disziplinarische Konsequenzen bei rücksichtslosem Verhalten notwendig werden? Durch gezieltes Kommunikations- und Verhaltenstraining lernen Führungskräfte, wie sie Patientensicherheit fördern und gleichzeitig ein faires Fehlermanagement im Gesundheitswesen umsetzen können.

Schliesslich braucht jede Organisation Just Culture-Champions – Personen aus dem Qualitätsmanagement oder der Patientensicherheit, die als Multiplikatoren fungieren und professionelle Fallanalysen durchführen können. Diese Spezialistinnen und Spezialisten absolvieren mehrtägige Trainings in Incident Analysis, Systemdenken (Reason, 1997), Root Cause Analysis und der Weitergabe ihres Wissens an Kolleginnen und Kollegen.

Entscheidend für nachhaltige Wirkung ist die Wahl der Lernformate: Simulation-basiertes Lernen mit realistischen Szenarien aus dem Klinikalltag, Peer-Learning-Formate zwischen verschiedenen Schweizer Gesundheitsinstitutionen – etwa über H-CIRS Community – und Mentoring-Programme sind wirkungsvoller als reine Frontalvorträge. Ein Pflegeteam, das gemeinsam einen Fall analysiert und Systemverbesserungen erarbeitet, verankert Just Culture-Prinzipien tiefer als jede Powerpoint-Präsentation über Fehlerkultur.

Integration mit Meldesystemen: Technologie als Enabler der Sicherheitskultur

Ein Critical Incident Reporting System (CIRS) wie H-CIRS und und Just Culture sind untrennbar miteinander verbunden. Das CIRS-System liefert die Daten über Fehler, Beinahe-Fehler und unerwünschte Ereignisse, Just Culture schafft das Vertrauen, damit überhaupt gemeldet wird, und gibt den Rahmen vor, wie mit den Meldungen im Sinne einer konstruktiven Meldekultur umgegangen wird (Reason, 1997).

Die Machbarkeitsstudie von Leibold und Fridrich (2024) für die Stiftung Patientensicherheit Schweiz betont, dass moderne Meldesysteme für das Schweizer Gesundheitswesen Just Culture-Prinzipien direkt in ihre Workflows integrieren sollten. Analyseprozesse fokussieren auf systemische Ursachen und latente Fehlerquellen statt auf die Suche nach Schuldigen (Reason, 1997). Und die Bearbeitung erfolgt nach klar definierten, fairen Kriterien des Risiko- und Fehlermanagements im Gesundheitswesen.

Je nach Grösse und Anforderungen der Einrichtung stehen verschiedene Lösungen zur Verfügung: H-CIRS Professional bietet umfassende Funktionen für grosse Spitäler und Klinikverbünde mit garantierter Anonymität bei sensiblen Meldungen, transparenten Feedback-Schleifen zu den Meldenden und Auswertungsmöglichkeiten für Trend-Analysen über verschiedene Abteilungen und Standorte hinweg. Für kleinere Einrichtungen mit begrenzten Ressourcen ermöglicht H-CIRS Starter einen kosteneffizienten Einstieg in professionelles Fehlermanagement im Gesundheitswesen. Organisationen, die vom Erfahrungsaustausch mit anderen Institutionen profitieren möchten, finden in H-CIRS Community eine Plattform für gemeinsames Lernen und Benchmarking.

Diese digitalen Lösungen unterstützen nicht nur das Qualitätsmanagement, sondern tragen direkt zur Stärkung der Patientensicherheit bei. Sie ermöglichen es Qualitätsverantwortlichen in Schweizer Spitälern und Kliniken, proaktiv auf sich abzeichnende Risiken zu reagieren, bevor tatsächliche Schadensereignisse eintreten – ein zentraler Aspekt wirksamer Patientensicherheit. Ein wichtiger Aspekt für die Meldekultur ist auch die Rückmeldung an die Meldenden: Moderne CIRS-Systeme ermöglichen es, selbst bei anonymen Meldungen über einen geschützten Kanal Rückfragen zu stellen oder über umgesetzte Massnahmen zu informieren. Diese Feedback-Schleifen sind essenziell, um die Meldebereitschaft langfristig aufrechtzuerhalten und eine lebendige Lernkultur zu etablieren (Dekker, 2012). Damit werden technologischen System zum praktischen Werkzeug für kontinuierliches Fehlermanagement im Gesundheitswesen und zur messbaren Verbesserung der Patientensicherheit.

Technologie als Enabler: Ein professionelles CIRS-System erleichtert Just Culture nicht nur – es macht sie erst praktikabel im komplexen Alltag von Akutspitälern, Rehakliniken, Pflegeheimen und Spitex-Organisationen.

Praktische Verankerung: Safety Huddles und „Marschhalt“

Gelebte Just Culture im Schweizer Gesundheitswesen zeigt sich in alltäglichen Praktiken, die Sicherheitskultur und Patientensicherheit konkret erlebbar machen. Zwei bewährte Formate sind Safety Huddles und das Prinzip des „Marschhalts“ (Stop the Line).

Safety Huddles sind kurze, strukturierte Sicherheitsbesprechungen von fünf bis zehn Minuten zu Schichtbeginn oder vor kritischen Eingriffen. Das Team bespricht aktuelle Sicherheitsrisiken, teilt Lessons Learned aus vergangenen Zwischenfällen und thematisiert offen Arbeitsbelastung und potenzielle Stressfaktoren. Studien zeigen, dass Safety Huddles nachweislich die Teamarbeit und Sicherheitskultur verbessern (Lamming et al., 2021) und eine wertvolle Methode zum Lernen aus der täglichen Arbeitspraxis darstellen (Wahl, Stenmarker & Ros, 2022). Diese Huddles fördern nicht nur die Teamkommunikation, sondern etablieren offene Kommunikation über Risiken als Normalität – ohne Schuldzuweisung, dafür mit dem Fokus auf proaktive Gefahrenidentifikation im Rahmen des Risiko- und Fehlermanagements im Gesundheitswesen.

Das Prinzip des „Marschhalts“ (international als „Stop the Line“ oder „Speaking Up“ bekannt) gibt jedem Teammitglied – von der Assistenzärztin bis zum Pflegefachmann – das Recht und die Pflicht, einen Prozess zu unterbrechen, wenn Sicherheitsbedenken bestehen. Die Forschung zeigt, dass „Speaking Up“ für Patientensicherheit essenziell ist, um Fehler zu vermeiden (Okuyama, Wagner & Bijnen, 2014), jedoch oft durch hierarchische Barrieren erschwert wird (Bell & Martinez, 2019). Dies erfordert absolute Rückendeckung der Führung: Niemand darf negative Konsequenzen erfahren, weil er oder sie berechtigte Bedenken zur Patientensicherheit geäussert hat. Ein strukturierter Klärungsprozess nach dem Stopp stellt sicher, dass die Situation fair im Sinne der Fehlerkultur und des Fehlermanagement im Gesundheitswesen analysiert wird (Marx, 2001). Dieses Prinzip überwindet Hierarchien in kritischen Situationen und stärkt die Eigenverantwortung aller Beteiligten – ein Kernelement der Just Culture.

Implementierungstipp für Schweizer Einrichtungen: Beginnen Sie mit niedrigschwelligen Formaten wie Safety Huddles, bevor Sie komplexere Interventionen wie den Marschhalt einführen. Diese einfachen, aber wirkungsvollen Methoden helfen, Fehlermanagement im Gesundheitswesen praktisch zu verankern und die Patientensicherheit im Arbeitsalltag spürbar zu verbessern. Kulturwandel braucht schrittweise Erfolge.

Herausforderungen antizipieren und meistern

Die Implementierung einer Just Culture im Schweizer Gesundheitswesen verläuft selten reibungslos. Erfolgreiche Organisationen – von Universitätsspitälern in Basel, Zürich oder Bern bis zu kleineren Pflegeheimen und Spitex-Organisationen schweizweit– antizipieren typische Hürden und entwickeln proaktive Lösungsstrategien (Leibold & Fridrich, 2024).

Traditionelle Hierarchien in Spitälern und Kliniken können offene Kommunikation behindern (Okuyama, Wagner & Bijnen, 2014). Hier helfen strukturierte Formate für hierarchieübergreifenden Austausch und die Möglichkeit anonymer Meldungen über CIRS-Systeme wie H-CIRS ProfessionalH-CIRS Starter oder die Vernetzungsplattform H-CIRS Community. Zeit- und Ressourcendruck im hektischen Klinikalltag lässt sich durch Integration der Meldekultur in bestehende Prozesse und effiziente digitale Tools abmildern – automatisierte Workflows beschleunigen die Bearbeitung von Meldungen im Qualitäts- und Fehlermanagement im Gesundheitswesen erheblich. Diese Systeme sind nicht nur Instrumente des Qualitätsmanagements, sondern zentrale Werkzeuge für Fehlermanagement im Gesundheitswesen und fördern aktiv die Patientensicherheit.

Tiefverwurzeltes Misstrauen gegenüber Meldesystemen – „Was passiert wirklich mit meiner Meldung?“ – baut man nur durch kleine, sichtbare Erfolge ab. Transparente Kommunikation über umgesetzte Systemverbesserungen und der Schutz vor Vergeltungsmassnahmen sind hier zentral für eine funktionierende Verantwortungskultur (Dekker, 2012). Der kulturelle Widerstand nach dem Motto „Fehler sind immer jemandem anzulasten“ erfordert intensive Schulung und positive Rollenvorbilder in der Führungsebene. Führungskräfte spielen hierbei eine Schlüsselrolle, da sie Patientensicherheit aktiv vorleben und Vertrauen in das Fehlermanagement-System schaffen müssen.

Eine weitere Herausforderung ist die inkonsistente Anwendung der Just Culture-Prinzipien in verschiedenen Abteilungen oder Standorten eines Spitals. Klare Standards im Fehlermanagement und regelmässige Kalibrierung der Entscheidungsprozesse schaffen hier Abhilfe (Marx, 2001). Schliesslich fehlen in der Schweiz – im Gegensatz zu anderen Ländern – noch einheitliche nationale Standards für Just Culture, wie die Studie von Leibold und Fridrich (2024) im Auftrag des BAG aufzeigt. Hier ist proaktive Orientierung an internationalen Best Practices und die Zusammenarbeit mit der Stiftung Patientensicherheit Schweiz gefragt.

Erfolgsprinzip: Jede Herausforderung ist gleichzeitig eine Chance für organisationales Lernen und die Weiterentwicklung Ihrer Sicherheitskultur – und damit für ein starkes, zukunftsfähiges Fehlermanagement im Gesundheitswesen, das Patientensicherheit messbar verbessert.

Erfolgsmessung: Den Wandel sichtbar machen

Was nicht gemessen wird, wird nicht gemanagt. Kultureller Wandel im Qualitäts- und Risikomanagement braucht Messbarkeit. Erfolgreiche Just Culture-Implementierung lässt sich sowohl quantitativ als auch qualitativ erfassen.

Quantitative Indikatoren umfassen z.B. die Anzahl der CIRS-Meldungen pro Zeitraum und Bereich, das Verhältnis von Beinahe-Zwischenfällen zu tatsächlichen Schadensereignissen (ein steigender Anteil von Beinahe-Fehlern ist ein gutes Zeichen für eine offene Meldekultur!), die durchschnittliche Bearbeitungszeit von Meldungen und die Anzahl implementierter Systemverbesserungen im Fehlermanagement. Moderne Meldesysteme wie H-CIRS Professional bieten integrierte Analytics, die Kennzahlen zur Patientensicherheit automatisch erfassen. Auch H-CIRS Community ermöglicht Benchmarking mit anderen Institutionen.

Qualitative Indikatoren sind ebenso wichtig für die Beurteilung der Fehlerkultur: Wie hoch ist das Mitarbeitervertrauen in faire Behandlung? Wie offen ist die Kommunikation in Teams? Wie verhalten sich Führungskräfte bei kritischen Ereignissen? Diese Aspekte lassen sich durch regelmässige Mitarbeiterbefragungen, kulturelle Assessments und strukturierte Interviews erfassen (Edmondson, 2018). Auch Patientenfeedback über Systeme wie H-FEEDBACK kann wertvolle Einblicke in die gelebte Sicherheitskultur und Patientensicherheit Ihrer Einrichtung geben.

Wo steht Ihre Organisation? Das Just Culture-Reifegradmodell

Ein hilfreiches Instrument zur Standortbestimmung für Schweizer Spitäler, Kliniken und Pflegeeinrichtungen ist das Just Culture-Reifegradmodell (basierend auf Hudson et al., 2006; Marx, 2001 und Reason, 1997), das Organisationen auf verschiedenen Entwicklungsstufen einordnet:

Level 1: Reaktiv (Blame Culture) – Schuldzuweisung dominiert, wenige Meldungen aus Angst vor Konsequenzen, oberflächliche Analysen von Zwischenfällen und Symptombehandlung statt Ursachenforschung im Risikomanagement.

Level 2: Erwachend (Awareness Building) – Erste Just Culture-Initiativen entstehen, die Meldebereitschaft steigt langsam, grundlegende Schulungen zum Fehlermanagement werden durchgeführt, die Reaktionen auf Ereignisse sind noch gemischt.

Level 3: Entwickelnd (Systematic Implementation) – Strukturierte Just Culture-Prozesse sind etabliert, regelmässige Analysen und Verbesserungen im Qualitätsmanagement finden statt, die mittlere Führungsebene ist engagiert, erste kulturelle Veränderungen hin zu einer Lernkultur werden sichtbar.

Level 4: Proaktiv (Embedded Culture) – Just Culture ist selbstverständlicher Teil des Alltags, hohe psychologische Sicherheit (Edmondson, 2018), systematisches Lernen aus Ereignissen und Beinahe-Zwischenfällen, kontinuierliche Systemverbesserungen sind Standard in der Sicherheitskultur.

Level 5: Generativ (Learning Organization) – Just Culture wird zum strategischen Vorteil für Patientensicherheit (Reason, 1997), Innovation wird durch die Fehlerkultur gefördert, die Organisation dient anderen Schweizer Einrichtungen als Vorbild, nachhaltiger kultureller Wandel ist vollzogen.

Self-Assessment-Tool: Nutzen Sie das kostenlose „Stages of Just Culture Quiz“ von Lisa M. Taylor, um eine erste Standortbestimmung vorzunehmen: https://www.justculture.healthcare/stages-of-just-culture-quiz/

Dieses Quiz hilft Ihnen zu erkennen, auf welcher Entwicklungsstufe sich Ihre Schweizer Gesundheitseinrichtung aktuell befindet und welche nächsten Schritte für Ihr Qualitäts-, Risiko und Fehlermanagement sinnvoll sind. Die ehrliche Selbsteinschätzung ist der erste Schritt zur gezielten Weiterentwicklung Ihrer Sicherheitskultur und Meldekultur. 

Fazit: Just Culture als kontinuierliche Reise im Schweizer Gesundheitswesen

Die Implementierung einer Just Culture in Schweizer Spitälern, Kliniken, Pflegeheimen, Spitex-Organisationen und Arztpraxen ist kein Sprint, sondern ein Marathon (Dekker, 2012). Es ist ein tiefgreifender kultureller Wandel, der authentisches Leadership Commitment, systematische Kompetenzentwicklung, die Integration mit modernen Meldesystemen und die praktische Verankerung in alltäglichen Prozessen des Qualitäts-, Risiko- und Fehlermanagements im Gesundheitswesen erfordert.

Trotz der Herausforderungen ist es ein lohnender Weg: Just Culture erhöht nicht nur die Patientensicherheit messbar und reduziert unerwünschte Ereignisse (Leibold & Fridrich, 2024), sondern schafft auch eine positivere, lernfähigere Arbeitsumgebung für alle Mitarbeitenden. In einer Zeit, in der Fachkräftemangel und zunehmendem Druck im Schweizer Gesundheitswesen wachsende Probleme darstellen, ist eine Kultur des Vertrauens und des gemeinsamen Lernens ein strategischer Vorteil – sowohl für die Patientensicherheit als auch für die Mitarbeiterzufriedenheit (Edmondson, 2018).

Ihre nächsten Schritte für wirksames Fehlermanagement:

  • Bewerten Sie ehrlich den aktuellen Reifegrad Ihrer Organisation
  • Identifizieren Sie die drei grössten Herausforderungen für Just Culture in Ihrem Kontext
  • Entwickeln Sie einen systematischen, realistischen Implementierungsplan
  • Investieren Sie in die richtigen CIRS-Systeme und Schulungen
  • Starten Sie mit Quick Wins für ersten Vertrauensaufbau in der Meldekultur und Patientensicherheit

Im vierten Teil unserer Blogreihe beleuchten wir, wie CIRS-Systeme und Feedback-Instrumente als Motoren der Sicherheitskultur fungieren und im Zusammenspiel mit Just Culture ihr volles Potenzial für Patientensicherheit und Fehlermanagement im Schweizer Gesundheitswesen entfalten.

Referenzen

Bell, S. K., & Martinez, W. (2019). Every patient should be enabled to stop the line. BMJ Quality & Safety, 28(3), 172-176. https://qualitysafety.bmj.com/content/28/3/172

Dekker, S. (2012). Just Culture: Balancing Safety and Accountability. Ashgate Publishing. https://www.taylorfrancis.com/books/mono/10.4324/9781315251271/culture-sidney-dekker

Edmondson, A. C. (2018). The Fearless Organization: Creating Psychological Safety in the Workplace for Learning, Innovation, and Growth. Wiley. https://www.hbs.edu/faculty/Pages/item.aspx?num=54851

Hudson P, Parker D, van der Graaf D. (2002). The Hearts and Minds Program: Understanding HSE Culture. https://www.google.com/The Hearts and Minds Program: Understanding HSE Cultur.pdf

The Hearts and Minds Program: Understanding HSE Cultur

Lamming, L., Montague, J., Crosswaite, K., Faisal, M., Cracknell, A., Lovatt, S., & Wright, J. (2021). Fidelity and the impact of patient safety huddles on teamwork and safety culture: an evaluation of the Huddle Up for Safer Healthcare (HUSH) project. BMC Health Services Research, 21(1), 1-15. https://doi.org/10.1186/s12913-021-07080-1

Leibold, A., & Fridrich, A. (2024). Machbarkeitsstudie Just Culture im Schweizer Gesundheitswesen. Stiftung Patientensicherheit Schweiz / Bundesamt für Gesundheit (BAG). https://patientensicherheit.ch/wp-content/uploads/2025/06/Machbarkeitsstudie_Just-Culture.pdf  

Marx, D. (2001). Patient Safety and the „Just Culture“: A Primer for Health Care Executives. New York, NY: Trustees of Columbia University. https://www.mnhospitals.org/wp-content/uploads/Portals/Documents/ptsafety/Marx.pdf

Okuyama, A., Wagner, C., & Bijnen, B. (2014). Speaking up for patient safety by hospital-based health care professionals: a literature review. BMC Health Services Research, 14(1), 61. https://doi.org/10.1186/1472-6963-14-61

Reason, J. (1997). Managing the Risks of Organizational Accidents. Ashgate Publishing. https://www.taylorfrancis.com/books/mono/10.4324/9781315543543/managing-risks-organizational-accidents-james-reason

Wahl, K., Stenmarker, M., & Ros, A. (2022). Experience of learning from everyday work in daily safety huddles—a multi-method study. BMC Health Services Research, 22(1), 1088. https://doi.org/10.1186/s12913-022-08462-9

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H-CIRS Community – Vernetzungsplattform für gemeinsames Lernen und Benchmarking zwischen mehreren Gesundheitseinrichtungen

H-FEEDBACK – Systematische Erfassung von Mitarbeiter- und Patientenfeedback zur Stärkung der Sicherheitskultur

H-IDEE – Empowerment durch strukturiertes Ideenmanagement und Förderung der Lernkultur

H-VIGILANZ – einfaches Vigilanzmeldesystem für Materio-, Pharmako- und Hämovigilanzfälle

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