Just Culture verstehen – Die drei Verhaltensweisen und der Blick aufs System: Fundament für wirksame Patientensicherheit und erfolgreiches Fehlermanagement (Teil 2)

Zwei Menschen schauen auf einen Bildschirm der die Software H-CIRS Professional abbildet

Just Culture verstehen – Die drei Verhaltensweisen und der Blick aufs System: Fundament für wirksame Patientensicherheit und erfolgreiches Fehlermanagement (Teil 2)

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Just Culture verstehen – Die drei Verhaltensweisen und der Blick aufs System: Fundament für wirksame Patientensicherheit und erfolgreiches Fehlermanagement (Teil 2)

Mehr als nur Schuldzuweisung: Der Schlüssel zur nachhaltigen Patientensicherheit

Im ersten Teil unserer Blogreihe haben wir die Grundlagen der Just Culture als fairen und lernfördernden Ansatz zur Patientensicherheit und zum Fehlermanagement im Gesundheitswesen  in der Schweiz kennengelernt. Wir haben dabei erkannt, dass Just Culture im Gegensatz zur traditionellen Schuldzuweisungskultur («Blame Culture») steht, dies aber nicht bedeutet, dass niemand mehr zur Verantwortung gezogen wird.

Vielmehr geht es um eine balancierte Verantwortlichkeit («balanced accountability»): eine differenzierte Betrachtung menschlichen Verhaltens, um angemessen reagieren zu können und gleichzeitig systemische Schwachstellen aufzudecken, die Fehler begünstigen (Boysen, 2013).

In diesem zweiten Teil unserer Serie tauchen wir tiefer in das Herzstück der Just Culture ein: die Unterscheidung der drei grundlegenden Verhaltensweisen, wie sie von David Marx (2001) speziell für das Gesundheitswesen entwickelt wurden. Das Verständnis dieser Kategorien – menschlicher Fehler, riskantes Verhalten und rücksichtsloses Verhalten – bildet das Fundament für faire Reaktionen auf Zwischenfälle und ermöglicht den entscheidenden systemischen Blick, der nachhaltige Verbesserungen schafft.

Warum ist das so wichtig? Diese Differenzierung ist nicht nur theoretisch relevant, sondern hat direkte Auswirkungen auf die Implementierung von Meldesystemen wie H-CIRS, die psychologische Sicherheit der Mitarbeitenden und letztendlich den Erfolg Ihres Fehlermanagements im Gesundheitswesen sowie Ihrer Sicherheitskultur und Patientensicherheit.

Die drei Verhaltensweisen im Detail: Ihr Wegweiser für Just Culture in der Praxis

Stellen Sie sich vor: Ein Medikament wird falsch dosiert. Die entscheidende Frage ist nicht «Wer war das?», sondern «Wie konnte das passieren?» War es ein einfacher Flüchtigkeitsfehler? Eine bewusste Abkürzung unter Zeitdruck? Oder eine grobe Missachtung von Sicherheitsregeln? Die Just Culture bietet den strukturierten Rahmen, um diese Fragen zu analysieren und angemessen zu reagieren.

1. Menschlicher Fehler (Human Error) – Wenn kompetente Menschen in unvollkommenen Systemen arbeiten

Hauptmerkmale: Unbeabsichtigtes Handeln ohne böse Absicht. Ein Versehen, ein Ausrutschen, eine Gedächtnislücke, ein Irrtum. Die Person wollte das Richtige tun, aber das Ergebnis entsprach nicht der Absicht. Menschliche Fehler sind oft Symptome von Systemproblemen wie schlechtem Design, unklaren Prozessen, Müdigkeit, Ablenkungen oder unzureichender Ausbildung (Reason, 1990).

Typische Praxisbeispiele aus dem Schweizer Gesundheitswesen:

  • Medikationsfehler durch ähnlich aussehende Verpackungen oder ähnlich klingende Medikamentennamen (LASA-Problematik – Look-Alike-Sound-Alike) – ein bekanntes Phänomen in der Pharmakologie, das selbst erfahrene Fachkräfte betrifft.
  • Verwechslung von Patientendaten bei unübersichtlichen IT-Systemen, die durch komplexe Benutzeroberflächen oder ähnliche Patientennamen begünstigt wird.
  • Vergessen von notwendigen Schritten bei seltenen, aber kritischen Prozeduren, besonders wenn diese nicht regelmässig durchgeführt werden.
  • Fehlinterpretation von unleserlichen Handschriftlichen oder unklaren Anweisungen, die trotz digitaler Systeme noch immer in der Praxis vorkommen.
  • Eine erfahrene Pflegefachfrau verabreicht versehentlich 10 mg statt 1 mg eines Medikaments, weil sie sich verlesen hat.
  • Ein Chirurg führt eine Operation am falschen Bein durch, weil die Patientenakte falsch beschriftet war.
  • Eine Ärztin übersieht eine wichtige Information in der elektronischen Patientenakte, weil das System unübersichtlich gestaltet ist.
  • Ein Laborassistent verwechselt zwei Proben mit ähnlichen Namen.

Die Just Culture-Reaktion: Trost, Unterstützung und systemische Analyse statt Bestrafung. Die betroffene Person braucht emotionale Unterstützung, denn oft leiden die Verursacher selbst am meisten unter den Folgen (Marx, 2001). Die Leitfrage lautet: „Wie können wir das System so gestalten und verbessern, dass dieser Fehler in Zukunft weniger wahrscheinlich wird?“

Systemische Verbesserungsstrategien:

  • Standardisierung und Vereinfachung von Prozessen und Reduktion von Störfaktoren, besonders bei LASA-Medikamenten
  • Benutzerfreundliches Design von Arbeitsplätzen und Software
  • Intelligente Technologie als Sicherheitsnetz (z.B. Barcode-Scanner)
  • Ergonomische Optimierung der Arbeitsumgebung
  • Optimierung der Arbeitsbelastung und Pausenregelung
  • Regelmässige Schulung und Training zur Auffrischung von Fertigkeiten und Sensibilisierung für häufige Fehlerquellen

Relevanz für Ihre Praxis: Menschliche Fehler sind goldene Lernmöglichkeiten. Ein effektives Fehlermanagement im Gesundheitswesen und CIRS-System wie H-CIRS erfasst diese systematisch und wandelt sie in konkrete Systemverbesserungen um.

2. Riskantes Verhalten (At-Risk Behavior) – Wenn gute Absichten zu gefährlichen Gewohnheiten werden

Hauptmerkmale: Eine bewusste Entscheidung, von einer sicheren Vorgehensweise abzuweichen, wobei das Risiko unterschätzt oder als gerechtfertigt angesehen wird. Oft entstehen diese Verhaltensweisen aus Zeitdruck, praktischen Erwägungen oder weil „es immer gut gegangen ist“. Dieses Verhalten ist oft zur Gewohnheit geworden und wird möglicherweise sogar von Kollegen oder der Organisation toleriert (Marx, 2001).

Typische Situationen im Schweizer Gesundheitswesen:

  • Überspringen von Sicherheits-Checks unter Zeitdruck
  • Verzicht auf Schutzausrüstung, weil es umständlich und unpraktisch ist
  • Abkürzungen in der Dokumentation zur Zeitersparnis
  • Durchführung von Tätigkeiten ohne vollständige Qualifikation aus Hilfsbereitschaft
  • Ein Assistenzarzt überspringt eine Sicherheitscheckliste, weil er unter Zeitdruck steht und «es bisher immer gut gegangen ist.»
  • Eine Pflegefachperson desinfiziert ihre Hände nicht zwischen zwei Patienten, weil sie sich beeilt und «nur kurz» etwas kontrollieren wollte.
  • Ein Apotheker gibt ein Medikament ohne vollständige Identitätsprüfung an, weil er den Patienten «schon lange kennt».
  • Ein Techniker führt eine Wartung ohne Sicherheitsprotokoll durch, um Zeit zu sparen.

Die Just Culture-Reaktion: Coaching und Ursachenforschung. Die Person muss verstehen, warum das Verhalten riskant ist und welche sichereren Alternativen es gibt. Gleichzeitig muss die Organisation hinterfragen, warum dieses Verhalten auftritt. Gibt es systemische Anreize für das riskante Verhalten? Sind die sicheren Prozesse zu kompliziert oder schlecht gestaltet? (Marx, 2001; Boysen, 2013)

Systemische Lösungsansätze:

  • Realistische Zeitplanung und Ressourcenallokation
  • Vereinfachung sicherer Prozesse
  • Beseitigung konkurrierender Prioritäten
  • Positive Anreizsysteme für sicheres Verhalten

Wichtiger Hinweis: Riskantes Verhalten ist oft ein Symptom von Systemproblemen, nicht von „problematischen“ Mitarbeitenden. Strukturierte Feedback-Systeme wie H-FEEDBACK helfen, diese Muster frühzeitig zu erkennen und eine Meldekultur im Gesundheitswesen zu fördern.

3. Rücksichtsloses Verhalten (Reckless Behavior) – Wenn bewusst Grenzen überschritten werden

Hauptmerkmale: Eine bewusste Missachtung eines erheblichen und nicht zu rechtfertigenden Risikos. Die Person weiss, dass sie ein hohes Risiko eingeht, und tut es trotzdem, ohne triftigen Grund. Dies ist die seltenste Kategorie, aber auch die schwerwiegendste (Marx, 2001).

Ernste Beispiele:

  • Wiederholtes Ignorieren von Sicherheitsmassnahmen trotz Ermahnungen
  • Absichtliche Manipulation von Dokumentationen
  • Arbeiten unter Einfluss von Alkohol oder Drogen
  • Bewusste Gefährdung von Patientensicherheit oder ethischen Grundsätzen
  • Ein Arzt operiert unter Alkoholeinfluss.
  • Eine Pflegefachfrau ignoriert wiederholt und bewusst Hygienemassnahmen trotz mehrfacher Ermahnung.
  • Eine Technikerin umgeht absichtlich kritische Sicherheitssysteme.
  • Ein Apotheker gibt bewusst abgelaufene Medikamente ab.

Die Just Culture-Reaktion: Konsequentes Handeln bis hin zu disziplinarischen Massnahmen. Hier steht die individuelle Verantwortung im Vordergrund, da bewusst eine Grenze überschritten wurde. Gleichzeitig muss aber auch hier geprüft werden, ob systemische Faktoren (z.B. mangelnde Aufsicht, fehlende Konsequenzen in der Vergangenheit, unklare Regeln) dieses Verhalten ermöglicht oder begünstigt haben (Marx, 2001).

Führungsverantwortung: Selbst bei rücksichtslosem Verhalten müssen Führungskräfte die Systemebene mitbetrachten. Moderne Meldesysteme wie H-CIRS-Professional unterstützen diese komplexe Analyse durch strukturierte Workflows.

Die Systembrille: Vom individuellen Verhalten zu organisationalen Verbesserungen

Die wahre Stärke der Just Culture liegt nicht in der blossen Kategorisierung individueller Handlungen, sondern in ihrer systemischen Perspektive. Jede der drei Verhaltensweisen fungiert als ein sensibles Diagnosewerkzeug für organisationale Schwachstellen, welches wertvolle Hinweise auf potenzielle Schwachstellen im System liefert (Reason, 1997).

Menschliche Fehler: Frühwarnindikatoren für Systemprobleme

Menschliche Fehler sind selten isolierte Zufälle, sondern direkte Frühwarnindikatoren für tiefer liegende organisationale Probleme:

  • Designmängelin Technologie und Arbeitsplätzen offenbaren sich durch wiederkehrende Bedienungsfehler, Verwechslungen ähnlich aussehender Elemente oder ergonomische Probleme.
  • Prozessschwächen und unklare Arbeitsanweisungen manifestieren sich in Fehlern bei Routinetätigkeiten, die durch mangelnde Klarheit oder widersprüchliche Vorgaben erschwert werden.
  • Ausbildungslücken und Kompetenzdefizite werden sichtbar, wenn Mitarbeitende in Situationen scheitern, für die sie eigentlich vorbereitet sein sollten, aber offensichtlich nicht über das notwendige Wissen oder die erforderlichen Fähigkeiten verfügen.
  • Arbeitsüberlastung und Ressourcenknappheit zeigen sich in Fehlern, die unter Normalbedingungen nicht auftreten würden, aber unter Stress, Zeitdruck oder bei unzureichender Personalausstattung praktisch unvermeidlich werden.

Riskantes Verhalten: Symptom problematischer Systeme

Riskantes Verhalten ist oft ein verzweifelter Lösungsversuch, in problematischen Systemen, die ihre Nutzer zum Regelumgehen zwingen:

  • Unpraktikable sichere Prozesse führen dazu, dass Mitarbeiter kreative, aber riskante Workarounds entwickeln, um ihre Arbeit überhaupt bewältigen zu können.
  • Falsche Anreizsysteme, die Geschwindigkeit und Effizienz über Sicherheit stellen, belohnen faktisch riskantes Verhalten und bestrafen gewissenhaftes, aber langsameres Vorgehen.
  • Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis – das Gap zwischen „Work-as-Imagined“ und „Work-as-Done“ (Dekker, 2012) – zwingt Praktiker dazu, eigene Lösungen zu finden, die oft riskant, aber in der konkreten Situation funktional sind.
  • Ressourcenknappheit oder unrealistische Erwartungen schaffen einen Druck, der sichere Praktiken als Luxus erscheinen lässt, den man sich nicht leisten kann.

Rücksichtsloses Verhalten: Wenn Systeme versagen

Selbst rücksichtsloses Verhalten, das primär individuell zu verantworten ist, kann durch organisationale Faktoren begünstigt oder sogar systematisch gefördert werden:

  • Mangelnde Supervision und Kontrolle schaffen Räume, in denen rücksichtsloses Verhalten unentdeckt bleibt und sich etablieren kann.
  • Unklare oder widersprüchliche Regeln verwirren Mitarbeitende und machen es schwer zu erkennen, wo die Grenzen akzeptablen Verhaltens tatsächlich verlaufen.
  • Schwache Sicherheitskultur sendet subtile, aber wirkungsvolle Botschaften darüber aus, was in der Organisation wirklich wichtig ist und was nur auf dem Papier steht.
  • Fehlende Konsequenzen bei Regelverstössen untergraben die Glaubwürdigkeit aller Sicherheitsbestimmungen und signalisieren, dass rücksichtsloses Verhalten toleriert oder sogar akzeptiert wird.

Der transformative Paradigmenwechsel

Die Analyse von Zwischenfällen im Rahmen einer echten Just Culture fragt daher nicht nur „Wer hat was getan?“, sondern vor allem „Warum ist es passiert?“ und „Wie verhindern wir, dass es wieder passiert?“

Dieser fundamentale Paradigmenwechsel von der personenzentrierten zur systemzentrierten Analyse ist mehr als nur eine methodische Verfeinerung – er ist der Schlüssel zu nachhaltigen Verbesserungen für das Fehlermanagement im Gesundheitswesen und der Patientensicherheit. Nur wenn wir die systemischen Wurzeln verstehen, können wir Lösungen entwickeln, die nicht nur das aktuelle Problem beheben, sondern auch zukünftige ähnliche Ereignisse verhindern.

Grauzonen und Herausforderungen in der Praxis: Wenn die Theorie auf die Realität trifft

Die Unterscheidung der drei Verhaltensweisen klingt in der Theorie sehr klar, entpuppt sich in der Praxis jedoch oft als komplexe Herausforderung. Die Grenzen, insbesondere zwischen menschlichem Fehler und riskantem Verhalten, können fliessend sein (Boysen, 2013). War die Abweichung wirklich bewusst? Wurde das Risiko tatsächlich erkannt und in Kauf genommen?

Der Substitutionstest: Ein bewährtes Werkzeug für faire Entscheidungen.

Hier erweist sich der sogenannte Substitutionstest als ein unverzichtbares Instrument (Marx, 2001). Dieses elegante und wirkungsvolle Werkzeug reduziert die Komplexität auf eine zentrale Frage: „Würde eine andere Person mit vergleichbarer Qualifikation und Erfahrung in der gleichen Situation ähnlich gehandelt haben?“

  • Ja → deutet eher auf einen menschlichen Fehler oder ein systemisch begünstigtes riskantes Verhalten hin.
  • Nein → Verdacht liegt auf individuellem riskantem oder gar rücksichtslosem Verhalten.

Zusätzliche Fallstricke in der praktischen Anwendung

Die Anwendung der Just Culture-Prinzipien wird durch weitere, oft unterschätze Faktoren erschwert.

  • Kognitive Verzerrungen: Der „Hindsight Bias“ (Rückschaufehler) lässt Situationen im Nachhinein klarer erscheinen, als sie waren (Reason, 1990). Was rückblickend als offensichtlicher Fehler erscheint, mag in der ursprünglichen Situation eine nachvollziehbare Entscheidung gewesen sein.
  • Zeitdruck: Wenn schnelle Reaktionen erwartet werden – sei es von der eigenen Organisation, Behörden oder Medien – besteht die Gefahr vorschneller Urteile, die der Komplexität der Situation nicht gerecht werden (Dekker, 2012).
  • Organisationsdruck: Externe Faktoren wie öffentliche Aufmerksamkeit, rechtliche Konsequenzen oder regulatorische Anforderungen können die objektive Analyse zusätzlich beeinträchtigen und zu unausgewogenen Entscheidungen führen (Khatri et al., 2009).

Erfolgsgeheimnis: Die Implementierung einer funktionsfähigen Just Culture erfordert geschulte Führungskräfte, klare Prozesse und Zeit für gründliche, Analysen. Moderne CIRS-Systeme wie H-CIRS unterstützen durch strukturierte Workflows, die automatisch an Just Culture-Prinzipien erinnern und eine systematische Herangehensweise für das Fehlermanagement im Gesundheitswesen fördern.

Exkurs: Professionelle Entscheidungshilfen für Führungskräfte

Für Schweizer Gesundheitsinstitutionen aller Grössen, die eine systematische, standardisierte Herangehensweise implementieren möchten, haben die National Patient Safety Foundation (2016) und andere führende Organisationen strukturierte Entscheidungshilfen entwickelt. Ein besonders praxisnahes Beispiel ist das  «Being Fair Tool» des National Health Service England (NHS, 2025), das spezifisch für die faire Beurteilung von Patientensicherheitsereignissen entwickelt wurde und internationale Standards für Just Culture-Implementierung setzt.

Das NHS »Being Fair Tool»: Ein strukturierter Best Practice-Ansatz

Dieses Tool repräsentiert die aktuelle Best Practice in der Just Culture-Anwendung und führt Führungskräfte durch einen systematischen Entscheidungsprozess mit aufeinander aufbauenden Tests:

1. Substitutionstest:

  • Würden Personen derselben Fachgruppe mit vergleichbarer Erfahrung und Qualifikation in ähnlichen Umständen gleich gehandelt haben?
  • War die Person in relevante Schulungen einbezogen?
  • Wurden Erfahrung, Hintergrund und kulturelle Unterschiede berücksichtigt?
  • War die Supervision angemessen?

2. Foresight-Test (Voraussicht-Test):

  • Gab es klare Protokolle oder anerkannte Praktiken für die betreffende Handlung?
  • Waren diese Protokolle praktikabel und spiegelten sie die anerkannte Praxis wider?

3. Test auf vorsätzlichen Schaden:

  • Gibt es Hinweise auf Rücksichtslosigkeit, vorsätzliche Vernachlässigung oder Absicht, Schaden zu verursachen?

4. Gesundheitstest:

  • Gibt es Hinweise auf Substanzmissbrauch oder gesundheitliche Probleme, die die Handlungen beeinflusst haben könnten?

5. Test auf mildernde Umstände:

  • Gibt es erhebliche mildernde Umstände für die Handlungen der Person?

Anpassung für Schweizer Verhältnisse

Diese strukturierten Fragen eignen sich sowohl für komplexe Ereignisse in grossen Spitälern als auch für alltägliche Situationen in Arztpraxen oder in der Langzeitpflege. Wichtig ist nicht die Grösse der Gesundheitsorganisation, sondern die systematische, faire Herangehensweise.

Hauptelement aller Entscheidungshilfen:

  • War die Handlung beabsichtigt oder unbeabsichtigt?
  • Kannte die Person das Risiko?
  • Hätte eine vergleichbare Person ähnlich gehandelt?
  • Welche systemischen Faktoren trugen zur Situation bei?
  • Welche Verbesserungen sind möglich?

Moderne Meldesysteme wie H-CIRS-Professional oder H-CIRS-Starter können solche Ansätze durch strukturierte Workflows und Erinnerungsfunktionen unterstützen und so eine konsistente Anwendung der Just Culture-Prinzipien in allen Bereichen des Gesundheitswesens fördern.

Praxistipp: Diese systematische Herangehensweise ist essenziell für eine faire und konsistente Anwendung der Just Culture-Prinzipien. Sie bildet auch die Grundlage für ein effektives Fehlermanagement im Gesundheitswesen. Das NHS-Tool betont dabei besonders die Bedeutung einer systembasierten Lernreaktion als Grundvoraussetzung.

Vorbereitung auf die Implementierung: Ihr Wegweiser zur praktischen Umsetzung

Dieses solide theoretische Fundament bildet die unverzichtbare Basis für die praktische Umsetzung, die wir in den folgenden Teilen unserer Serie vertiefen werden:

Teil 3 wird zeigen, wie Sie Just Culture in Ihrer Organisation implementieren – von der entscheidenden Führungsschulung bis zur systematischen Schaffung psychologischer Sicherheit.

Teil 4 erklärt, wie intelligente Meldesysteme wie H-CIRS, H-FEEDBACK, H-IDEE und H-VIGILANZ als kraftvolle Motoren der Sicherheitskultur fungieren und die Just Culture-Prinzipien nahtlos in die tägliche Praxis umsetzen.

Teil 5 wirft einen Blick in die Zukunft und zeigt auf, wie die Schweiz von internationalen Erfahrungen lernen und eine nationale Transformation des Gesundheitswesens gestalten kann.

Fazit: Just Culture als strategischer Wettbewerbsvorteil für Schweizer Gesundheitsorganisationen

Die differenzierte Betrachtung von menschlichem Fehler, riskantem und rücksichtslosem Verhalten ist weit mehr als eine theoretische Übung – sie ist der Hauptbaustein einer erfolgreichen, zukunftsfähigen Sicherheitskultur. Organisationen, die diese Unterscheidung meistern und systematisch anwenden, verschaffen sich entscheidende Vorteile und bewegen sich in Richtung dessen, was Wachter (2012) als «High Reliability Organization» beschreibt – eine Organisation, die durch systemische Sicherheitskultur und kontinuierliches Lernen aussergewöhnlich hohe Sicherheitsstandards erreicht:

  • Erhöhte Patientensicherheit durch gezielte systemische Verbesserungen
  • Gestärktes Mitarbeitervertrauen und damit verbundene höhere Meldebereitschaft
  • Verbesserte Fehlerkultur mit kontinuierlicher Lernfähigkeit
  • Kostenreduktion durch präventive Fehlervermeidung
  • Compliance-Vorteilen bei regulatorischen Anforderungen

 

Ihr strategischer nächster Schritt: Nehmen Sie eine ehrliche Standortbestimmung Ihrer aktuellen Praxis vor. Wie reagiert Ihre Organisation tatsächlich auf Zwischenfälle? Wird bereits differenziert analysiert und fair entschieden oder dominiert noch immer die reflexartige Schuldzuweisung? Diese Selbstreflexion ist der erste, entscheidende Schritt auf dem Weg zu einer transformativen Just Culture, die Ihre Organisation von einem reaktiven zu einem proaktiv lernenden System entwickelt.

Referenzen

Boysen, P. G. (2013). Just Culture: A Foundation for Balanced Accountability and Patient Safety. The Ochsner Journal, 13(3), 400–406. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3776518/

Dekker, S. (2012). Just Culture: Balancing Safety and Accountability. Ashgate Publishing. https://www.taylorfrancis.com/books/mono/10.4324/9781315251271/culture-sidney-dekker

Khatri, N., Brown, G. D., & Hicks, L. L. (2009). From a blame culture to a just culture in health care. Health Care Management Review, 34(4), 312–322. https://doi.org/10.1097/HMR.0b013e3181a3b709

Marx, D. (2001). Patient Safety and the „Just Culture“: A Primer for Health Care Executives. New York, NY: Trustees of Columbia University. https://psnet.ahrq.gov/resources/resource/1582/patient-safety-and-the-just-culture-a-primer-for-health-care-executives

National Health Service England. (2025). Being fair tool: Supporting staff following a patient safety incident.

https://www.england.nhs.uk/wp-content/uploads/2025/05/prn01822-i-being-fair-tool.pdf

National Patient Safety Foundation. (2016).  A Just Culture Tool. https://zdoggmd.com/wp-content/uploads/2018/12/Just-Culture-Tool_NPSF-Version_Adelman_9_22_16.pdf

Reason, J. (1990). Human Error. Cambridge University Press. https://www.cambridge.org/highereducation/books/human-error/281486994DE4704203A514F7B7D826C0#overview

Wachter, R. M. (2012). Understanding Patient Safety (2nd ed.). McGraw-Hill Education.

https://www.amazon.de/Understanding-Patient-Safety-Robert-Wachter/dp/0071765786

 

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